Geschichtspolitische Deutungskämpfe

Wegbeißen und abschreiben
Götz Alys Beitrag zur Geschichte des IfZ und Andreas Wirschings missglückter Versuch einer Gegenrede

Raul Hilbergs Buch „The Destruction of the European Jews“ gilt heute als Standardwerk zur Geschichte des Holocaust. Lange haben deutsche Historiker und Verlage die Übersetzung dieser bahnbrechenden Studie behindert. Darauf machte der Zeithistoriker Götz Aly aufmerksam, Autor u. a. der vieldiskutierten Arbeit „Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus“. Er wählte dazu eine internationale Konferenz anlässlich des zehnten Todestages Raul Hilbergs, die vom 18.-20. Oktober 2017 in Berlin stattfand.

Als verantwortliche Institution für die Ausgrenzung Hilbergs und anderer jüdischer Wissenschaftler machte Aly das Münchener Institut für Zeitgeschichte (IfZ) aus; also ausgerechnet jene 1949 gegründete Einrichtung, deren Auftrag darin bestanden hatte, „als erstes Institut überhaupt die nationalsozialistische Diktatur wissenschaftlich zu erschließen“ (Website des IfZ). Das IfZ zählte zu den Mitveranstaltern der Tagung.

Die Auseinandersetzung um Hilbergs Studie in Stichworten: Zwei Jahre nach Erscheinen der amerikanischen Ausgabe im Jahr 1961 erwarb der damals bedeutende Münchener Droemer Knaur Verlag 1963 die Übersetzungsrechte. 1965 kündigte er dann überraschend den Vertrag. Ein Grund: Das IfZ hatte ein negatives Votum über die Studie abgegeben. Das war zehn Jahre zuvor schon einmal so gewesen. Damals hatten die IfZ-Historiker versucht, das zum Standardwerk avancierte Buch des britischen Historikers Gerald Reitlinger „The Final Solution“ zu verhindern, weil es – laut IfZ-Protokoll – den Plan einer eigenen Dokumentation störe. Das IfZ war damit aber gescheitert, nicht zuletzt deshalb, weil Bundespräsidenten Theodor Heuss pro Reitlinger interveniert hatte. Reitlingers Studie konnte 1956 in deutscher Übersetzung im Berliner Colloquium Verlag erscheinen („Die Endlösung: Hitlers Versuch der Ausrottung der Juden Europas 1939-1945“).

Ein weiterer Grund für den Rückzug von Droemer Knaur: In den 1960er-Jahren wirkte dort als Cheflektor Fritz Bolle, ein, so Aly, „in Berlin geborener Autodidakt mit abgebrochenem Studium der Zoologie“. Bolle hatte in der zweiten Kriegshälfte als Chefassistent in einem unterirdischen Werk zur Raketenproduktion den Einsatz von KZ-Häftlingen mitorganisiert. Es steht zu vermuten, dass ihm Hilbergs Beschreibungen der Vernichtung durch Arbeit allzu genau ausgefallen waren.

Nach Droemer Knaur lehnte auch der Rowohlt Verlag eine Übersetzung von „The Destruction of the European Jews“ ab. Hier war es Fritz J. Radatz, der den Aufwand scheute.

Ende der 1970er-Jahre erwog dann der C.H. Beck Verlag eine Übersetzung von Hilbergs Werk. Wiederum wurde das IfZ um ein Gutachten gebeten. Wiederum fiel das Urteil – diesmal unter Martin Broszat als Direktor und Horst Möller als sein Stellvertreter – negativ aus. Folge: Auch der Beck Verlag zog zurück.

Die Blockade Hilbergs in deutschen Landen endete erst 1982. Damals brachte der linke Kleinverlag Olle & Wolter das Großwerk unter dem Titel „Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust“ auf den Markt. Die Gilde der renommierten Zeithistoriker ignorierte das Werk jedoch nach wie vor. Besprechungen in führenden Fachzeitschriften dieser Jahre sucht man vergebens. Das sollte sich erst in den 1990er-Jahren ändern, als schließlich der Fischer Taschenbuch Verlag das Werk erneut herausbrachte.

Für Götz Aly steckt hinter der jahrzehntelangen Ablehnung von Hilbergs Werk durch die Münchener Zeithistoriker System. Der Tageszeitung DIE WELT sagte er am 26.10.2017: „Deutsche Zeithistoriker verteidigten Deutungshoheit, bildeten sich ein, sie könnten es besser, bissen Konkurrenten weg und lehnten aus all diesen Gründen Werke jüdischer Historiker – wie Hilberg, H. G. Adler oder Joseph Wulf – als „befangen“ ab, und waren doch selbst nicht nur befangen, sondern in der deutschen Vergangenheit gefesselt.“

Dem IfZ wirft er darüber hinaus vor, das Erscheinen von Hilbergs Studie im deutschen Sprachraum nicht nur über Jahrzehnte hintertrieben, sondern sogar daraus abgeschrieben zu haben, um eigene Forschungslücken zu schließen. Und weiter: „Bis heute hat das Institut für Zeitgeschichte auf keinem Gebiet der Forschung über den Nationalsozialismus etwas geschaffen, von dem man sagen könnte: Das ist ein gültiges Werk. Zum Holocaust liegen die Bücher von Hilberg und Saul Friedländer vor, zur Zwangsarbeit von Ulrich Herbert, zur Ermordung von zwei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen legte Christian Streit das Grundlagenwerk vor, zur Euthanasie Ernst Klee. Das ist so. Leider.“

Mit Interesse konnte nun erwartet werden, wie das IfZ auf Alys Vorhaltungen reagieren würde, denn dessen Ausführungen waren durch Dokumente gut belegt, und Aly gilt als sorgfältiger Rechercheur. Seit 2011 steht das IfZ unter der Leitung von Andreas Wirsching, der die Nachfolge von Horst Möller angetreten hat. Wirsching, Autor u. a. einer umfangreichen Geschichte der Bundesrepublik von 1982-1990 – „Abschied vom Provisorium“ – nahm am 5.12.2017 gleichfalls in der WELT Stellung.

Im Grunde liefert der Beitrag eine Bestätigung von Alys Darstellung: „Es bleibt ein Stachel in der Geschichte des IfZ, wie zurückhaltend seine Historiker das empirische Geschehen der Judenvernichtung lange Zeit behandelten und wie sie die Beiträge jüdischer Forscher abwerteten“, schrieb Wirsching. Gleichzeitig verfuhr er nach einem Muster, das immer wieder zur Anwendung kommt, wenn Gegenargumente kaum vorgebracht werden können, eine Gegenposition aber bezogen werden muss.

Schritt 1: Man argumentiert, dass der Sachverhalt im Kern doch längst bekannt gewesen sei und versucht so, die Kritik zu entschärfen.

Schritt 2: Man unterstellt dem Kritiker unlautere Absichten bis hin zur Geltungssucht.

Schritt 3: Man spricht ihm ab, sachlich zu argumentieren und unterstellt wissenschaftsfremde Emotionalität.

Schritt 4: Man fordert zur Rückkehr zur Sachlichkeit auf, die man selbst definiert, und – jetzt wird es paradox – deren Boden man mit der Anwendung dieses vierstufigen Argumentationsmusters gerade erst selbst verlassen hat.

Wirschings Beitrag endet mit einer Scheinfrage zu den Motiven Götz Alys: „Was er damit bezweckt, bleibt sein Geheimnis. Der Holocaust-Forschung hat er mit diesem Sturm im Wasserglas jedenfalls keine neue Erkenntnis beschert.“ Natürlich hat er das nicht. Es ging in Alys Ausführungen aber auch gar nicht um die Erweiterung der Erkenntnisse über den Holocaust. Es ging vielmehr um ein relevantes Kapitel der Geschichte der Bundesrepublik, angesiedelt zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren. Es ging um die Ausgrenzung jüdischer Wissenschaftler aus dem etablierten Wissenschaftsbetrieb, es ging um die Blindheit der Platzhirsche gegenüber neuen Forschungsfragen, es ging um Diebstahl von Forschungsergebnissen und um die Verstrickung eines einflussreichen Akteurs aus dem Verlagswesen der Bundesrepublik in das NS-Programm der Vernichtung durch Arbeit.

Andreas Wirsching schreibt außerdem, „Transparenz auch im Umgang mit der eigenen Vergangenheit“ sei für das von ihm vertretene Haus „ein entscheidendes Leitmotiv“. Das ist erfreulich. In Zeiten, in denen Bundesministerien und Einrichtungen wie der Bundesnachrichtendienst endlich ihre Geschichte von unabhängigen Wissenschaftlern untersuchen lassen, stünde es dem Institut für Zeitgeschichte gut an, die Geschichte des eigenen Hauses ebenfalls einer sorgfältigen externen (!) Überprüfung unterziehen zu lassen. Anschließend würden vermutlich auch Überraschungen ausbleiben, wie sie Götz Aly noch zu präsentieren vermochte, und allzu gewundene Repliken wären dann auch überflüssig.

(5.1.2018)