Gesellschaftsanalyse, Medien- und Sprachkritik

In der Krise wächst das Autoritäre

Die Corona-Krise wird unsere Gesellschaft verändern. Ob sie Elemente der Solidarität und der internationalen Zusammenarbeit stärken wird, ob sie dazu beitragen wird, der Politik deutlich zu machen, dass sie dem Auseinanderfallen der Gesellschaft in Privilegierte und Unterversorgte entgegenarbeiten muss, ob sie den Blick der Europäischen Union für rechtsextreme und diktatorische Entwicklungen in der eigenen Gemeinschaft schärfen wird – Beispiel Ungarn –, all das sei dahingestellt. Wahrscheinlich, so meine Einschätzung, ist das nicht. Ich denke eher, dass sich zahlreiche vorhandene Trends weiter verstärken werden: Mehr und schnellere Produktion ohne Rücksicht auf die abhängig Beschäftigten, noch größere Urlaubslawinen besinnungslos Reisender in Homemobilen und auf Kreuzfahrtschiffen, weitere Zerstörungen von Natur um des Wintersports willen, ein Anstieg von Aggression in den Gesellschaften, zunehmende Ausbreitung von Verschwörungstheorien und einiges mehr. Plausibel erscheint mir daher das Negativszenario, das Wilhelm Heitmeyer, Soziologe an der Uni Bielefeld, in einem Interview vom 13. April 2020 in der ZEIT gezeichnet hat. Überschrieben ist es passend mit „In der Krise wächst das Autoritäre“. Es wird interessant sein, in – sagen wir – zwei, drei Jahren Einschätzungen wie die genannten erneut zu überprüfen.

(14.4.2020)

Die AfD als Matrjoschka-Puppe

Wie soll man sie einordnen, die AfD. Als populistisch, rechtsradikal oder rechtsextremistisch? Die Zuordnung klarer Begrifflichkeiten ist nicht ganz einfach. Einen, wie ich finde, überzeugenden Vorschlag, die Partei begrifflich zu fassen, hat der Politikwissenschaftler und Soziologe Floris Biskamp in der TAZ vom 10.12.2019 gemacht. Wieso er dazu das Bild der Matrjoschka-Puppe bemüht, lesen Sie hier.

(11.12.2019)

 

Gesellschaftliche Ordnung zwischen Dynamisierung und Regulierung

Der Westen befindet sich in einer politischen Umbruchsituation. Wie lässt sich diese begrifflich fassen? Das vertraute Links-rechts-Schema taugt zur Einordnung nicht mehr. Und die Differenzierung entlang der Frontlinien Populismus versus Liberalismus bleibt meist zu sehr an der Oberfläche haften. Andreas Reckwitz, Autor der Studie „Die Gesellschaft der Singularitäten“ (siehe: Buchbesprechungen) hat in der ZEIT vom 13.11.2019 ein Erklärungsmodell angeboten, das zum Nachdenken anregen kann.

Reckwitz geht davon aus, dass wir uns derzeit in einer Phase eines grundsätzlichen politischen Paradigmenwechsels befinden, wie es ihn in der jüngsten Geschichte erst zweimal gegeben hat: 1945 und 1980. Die damit verbundenen Wechsel der Vorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung beruhen, so Reckwitz, entweder auf dem Ideal einer Regulierung oder dem einer Dynamisierung von Ordnung. Was heute anstehen würde, wäre demnach „die Entwicklung eines neuen Regulierungsparadigmas, das auf die ökonomischen und kulturellen Krisen zugleich antwortet. Es kann jedoch nicht mehr identisch sein mit der alten Regulierung der Nachkriegszeit, da Globalisierung, Postindustrialisierung und kulturelle Pluralisierung (auch durch Migration) deren Voraussetzungen als überholt erscheinen lassen. Eine autarke Nationalökonomie oder eine homogene nationale Gemeinschaft können nicht das Ziel des neuen Paradigmas sein. Ein einbettender Liberalismus müsste demgegenüber auf sozioökonomische und soziokulturelle Ordnungsbildung inmitten der globalen Dynamik setzen: Auf der einen Seite steht eine Revitalisierung der öffentlichen Infrastrukturen von der Bildung über die Gesundheit und das Wohnen bis zum Verkehrswesen, eine Verringerung der Schere der Ungleichheit zwischen Prekärbeschäftigten und Superreichen sowie eine Abmilderung der ökonomischen Auseinanderentwicklung von Stadt und Land an. Auf der anderen Seite steht eine selbstbewusste Durchsetzung gemeinsamer Grundwerte auf der Agenda, etwa wenn es um die kulturelle Integration von Migranten und Einheimischen, eine Kultur sozialer Dienste, öffentliche Sicherheit oder eine Verteidigung ziviler Normen in den aggressiven Foren des Internets geht. […] Die Herausforderung ist dabei generell, die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte der globalen Dynamisierung und Liberalisierung – die Emanzipationsgewinne des Linksliberalismus und die Gewinne an globaler Wettbewerbsfähigkeit durch den Neoliberalismus – zu bewahren und weiterzuentwickeln und zugleich regulierend einzugreifen. Genau diese Balance ist es, die einen einbettenden Liberalismus vom Populismus unterscheidet.“

(9.12.2019)

 

AfD und Medien

Die Otto Brenner Stiftung der IG Metall hat im November 2018 eine Analyse des Verhältnisses zwischen AfD und Medien vorgelegt. Autor der Studie ist Bernd Gäbler, ehemaliger Chef des Grimme-Instituts und heute Journalistik-Professor an der FHM Bielefeld. Einige Kernaussagen der Studie:

  • Die Berichterstattung über die AfD ist besonders in den überregionalen Medien etwas besser geworden. So wird beispielsweise inzwischen kontinuierlicher und weniger sprunghaft – analog zu dem klassischen Reiz-Reaktionsschema – berichtet. Unfreiwillige PR für die Partei findet somit seltener statt.
  • Es gibt aber nach wie vor zu wenig Recherchen dazu, welches Beziehungs- und Beratergeflecht die AfD knüpft, um ihren Einfluss zu mehren.
  • Eine dreimonatige Analyse von Nürnberger Nachrichten und Oberhessischer Presse hat außerdem gezeigt, dass die deutsche Presselandschaft an ihrer Basis, bei den Lokal- und Regionalzeitungen, schwächelt. Große Themen werden auf die lokale Ebene kaum heruntergebrochen, es fehlt an Neugier auf die eigene unmittelbare Umgebung. Gelegentlich verfasste kraftvolle Kommentare wirken daher oft abgehoben, weil sie nicht durch entsprechende Berichte gestützt werden.
  • Im jüngeren Journalismus lässt sich ein Trend feststellen, die eigene Subjektivität in den Vordergrund zu rücken. Da wird dann über Gefühle und Befindlichkeiten gestritten statt über Sachverhalte und Begriffe. Allein mit der Behauptung der eigenen Identität kann man identitär ausgerichtete Gruppierungen aber nicht widerlegen.
  • Allzu häufig erweisen sich gerade auch jüngere Journalisten als nicht sonderlich faktensicher, wenn es um Kultur und Geschichte geht. Die Folge: Sie überlassen dann den Populisten zwangsläufig die Deutungshoheit, wenn es zum Beispiel um die Frage geht, wer sich als legitimer Erbe des Hambacher Festes verstehen darf.

Die 122-seitige Studie kann bei der Otto Brenner Stiftung kostenlos heruntergeladen werden.

(12.12.2018)

 

Über Berichterstattung zwischen
Objektivität und Haltung

Im Journalismus gibt es das Gebot, zwischen objektiven Tatbeständen und eigener Meinung klar zu trennen. Im Grunde ist das gut so. Dass die sinnvolle Aufrechterhaltung dieses Grundsatzes indes an Grenzen stößt und nach anderen Lösungen verlangt, darauf hat Sascha Lobo in einer lesenswerten Kolumne auf Spiegel-Online vom 18.7.2018 hingewiesen. Er führt darin zwei Beispiele aus einer Zeit des autoritären Backlash an. Beispiel 1: Der US-Präsident Donald Trump hatte bei seinem Treffen mit Russlands Präsident Wladimir Putin am 16. Juli 2018 in Helsinki die Ergebnisse der US-amerikanischen Geheimdienste abschlägig bewertet, nach denen die russische Staatsführung aktiv in den US-amerikanischen Wahlkampf eingegriffen hatte, aus dem Trump schließlich als Sieger über Frau Clinton hervorgegangen war. Zurück in den Staaten war er für seine devote Haltung gegenüber dem russischen Präsidenten von allen Seiten kritisiert worden, auch aus der eigenen Partei. Trumps Reaktion: Er habe bei der Pressekonferenz aus Versehen „would“ statt „wouldn’t“ gesagt, daher sei er missverstanden worden. Natürlich war das eine einfach durchschaubare Lüge. Diesem Umgang Trumps mit der Wahrheit liegt ein Muster zugrunde. Gerät er unter Druck und nützt es dem eigenen Interesse, wird gelogen, dass sich die Balken biegen.

Das Problem bei der Berichterstattung besteht nun darin, dass die meisten Medien – möglicherweise ungewollt – diese Lügenkaskaden durch ihre Berichterstattung quasi normalisieren. „Trump muss nach Helsinki-Gipfel Wogen in den USA glätten“, „Nach Treffen mit Putin – Druck auf Trump wächst“, „Trump erklärt und korrigiert sich“ lauteten einige der Schlagzeilen deutscher Medien nach Trumps Rückkehr in die USA. Die Ungeheuerlichkeit der Amtsführung des Präsidenten verschwindet aber hinter dieser scheinbaren Objektivität. Sie ist dadurch gar nicht mehr objektiv, sondern wirkt wie ein dauerhaftes Entlastungsprogramm für dessen Ausfälle.

Zweites Beispiel: die Berichterstattung über die AfD. Sie funktioniert nach demselben Muster. In Folge des Objektivitätsideals wird suggeriert, es handle sich bei der AfD um eine ganz normale Partei. Das ist sie aber nicht. Sascha Lobo zitiert den konservativen SPD-Abgeordneten Johannes Kahrs, der sie als „eine rechtsradikale Partei“ eingeordnet hat, und schlussfolgert: „Den Vorsitzenden [Alexander Gauland] einer […] ‚rechtsradikalen Partei’ als Inhaber einer gewöhnlichen, akzeptablen, demokratischen Meinung zu präsentieren, halte ich für fahrlässig und gefährlich. Es entspricht der hilflosen Normalisierung, die auch in den Schlagzeilen über Trump liegt.“

Welche Schlüsse lassen sich daraus für die Berichterstattung ziehen? Lügen auch als solche zu bezeichnen statt über spätere „Korrekturen“ zu schreiben, wäre sicher ein kleiner Beitrag zu mehr „Objektivität“. Darüber hinaus, schreibt Lobo: „Ich glaube, dass Journalisten heute qua Beruf auch Streiter für eine liberale Demokratie sind und dass sich dieser Umstand in den Nachrichten viel deutlicher spiegeln sollte. Man kann und sollte Berichterstattung und Meinungsartikel trennen: Aber man kann und sollte in diesen Zeiten nicht Berichterstattung und Haltung trennen.“

(23.7.2018)

 

Facebook unterminiert Freiheit und Zusammenhalt
der Gesellschaft

Facebook hat in wenigen Jahren eine grandiose Erfolgsgeschichte geschrieben. 2004 von seinem Erfinder Mark Zuckerberg als soziales Netzwerk eingeführt, das zunächst einem sehr überschaubaren Kreis von Studierenden an der Harvard University vorbehalten war, kann es heute auf rund zwei Milliarden monatliche Nutzer verweisen. Die Auslöser solcher Erfolgsgeschichten präsentieren sich gerne als Visionäre, die uneigennützig einer Mission folgen. Das gilt für Zuckerberg ähnlich wie für den verstorbenen Steve Jobs, dessen Präsentationen neuer Apple-Handelsware zu messianisch anmutenden Inszenierungen gerieten. Zuckerbergs Mission besteht nach eigenen Worten darin, „den Menschen die Macht zu geben, eine Gemeinschaft zu schaffen und die Welt näher zusammen zu bringen.“

Tatsächlich gründet Zuckerbergs Erfolg auf dem menschlichen Bedürfnis, von anderen so gesehen zu werden, wie man selbst gesehen werden möchte. Praktisch läuft seine Mission zu vernetzen also darauf hinaus, sich mit eben jenen Menschen zu vernetzen, die derselben Meinung sind. Die Folge: Das ohnehin zersplitterte Gemeinwesen wird immer insularer, das Verständnis vom „Wir“ immer enger. Facebook lässt die erfahrbare Welt nicht wachsen, sondern schrumpft sie; denn man sieht bekanntlich nur, was man weiß, und überschaubare Gruppen, die primär der Selbstbestätigung dienen, sind nicht gerade Horte der Wissensvermehrung über das Selbst und die Welt.

All das muss Facebook natürlich nicht kümmern, denn Inhalte sind dem Unternehmen bekanntlich egal. Ob Fakenews oder nicht, Hauptsache der Mechanismus, möglichst viele User zu binden, funktioniert; denn erst deren Bindung schafft die Grundlage für Wachstum und Monetarisierung Facebooks als Werbeunternehmen. Erst die enorme Menge an Informationen, die Zuckerbergs Unternehmen bei seinen Usern abschöpft – und die diese bedenkenlos und kostenfrei liefern –, ermöglicht es Facebook, als äußerst attraktiver Partner für Werbetreibende in aller Welt aufzutreten und ihnen Anzeigenplatzierungen mit nie dagewesener Zielgruppengenauigkeit zu offerieren.

Zu einer wahren Geldmaschine ist Facebook dadurch geworden, dass es die ohnehin schon üppigen Informationen über erklärte Vorlieben und Abneigungen, über die Likes und Dislikes seiner User um einen weiteren riesigen Datenspeicher ergänzt hat. In diesem Speicher befinden sich Daten, die rechnerunabhängig generiert wurden, also im Offline-Verhalten der Facebook-User gründen. Facebook verschaffte sich diesen Zugang, indem es Verträge mit Unternehmen wie Experian schloss, einem global aufgestellten Anbieter von Informationsdienstleistungen, der über seine Kontakte mit Direktmarketing-, Kreditkartenunternehmen und Einzelhändlern das Kaufverhalten der Verbraucher seit Jahrzehnten beobachtet.

Nimmt man all das zusammen, dann sind die User die dummen Schafe, die Facebook ihre Daten und Vorlieben auf dem goldenen Tablett servieren, während Facebook selbst als Werbeunternehmen agiert und die dazu notwendigen Informationen durch Überwachung und Ausspionierung seiner User gewinnt. Facebook ist also alles andere als ein Ermöglicher, Facebook ist eine Bedrohung.

Dieser Parforceritt durch die Schöne Neue Welt Mark Zuckerbergs konnte das Geschäftsmodell Facebook allenfalls in groben Zügen andeuten. Wer genauere Informationen in knapper Form dazu sucht, dem sei ein Essay des in Hamburg geborenen britischen Schriftstellers John Lanchester empfohlen. Lanchesters Ausführungen basieren auf Erkenntnissen über Facebook, die er vor allem aus drei aktuellen Veröffentlichungen der US-amerikanischen Autoren Tim Wu, Antonio García Martínez und Jonathan Taplin gewonnen hat.

Der Deutschlandfunk hat Lanchesters Essay in seiner Reihe „Essay und Diskurs“ unter dem Titel „Du bist das Produkt“ am 22. und 29.10.2017 in zwei Teilen übertragen.

Eine gute Nachricht gibt es übrigens in Sachen Facebook. „Facebook wird zum Seniorentreff“ meldet das Statistikportal „Statista“. Laut des Social-Media-Atlas der Beratungsgesellschaft Faktenkontor sank der Anteil der 14- bis 19-jährigen Onliner, die Facebook nutzen, von 90 Prozent im Jahr 2013 auf 61 Prozent in 2017. Weiter so …

(16.2.2018)

 

Problematische Leitbilder
der Gegenwartsgesellschaft

Über „Leitbilder der Gegenwartsgesellschaft“ hat der Journalist und Philosoph Joachim Weiner fünf Essays verfasst, die der Deutschlandfunk 2008 und 2009 in seiner Reihe „Essay und Diskurs“ ausstrahlte. Den Sendungen lag die Überlegung zugrunde, dass in nahezu allen soziologischen Zeitdiagnosen der Orientierungsverlust, den die Individualisierung dem Einzelnen beschert hat, als eine ernst zu nehmende Bedrohung für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft wahrgenommen wird.

Aus konservativer Sicht sind die beobachteten Orientierungsprobleme und Desintegrationsphänomene vor allem einem Mangel an verbindlichen gesellschaftlichen Werten und Leitbildern geschuldet. Doch das ist um einiges zu kurz gegriffen. Joachim Weiner zeigt in seinen Essays auf, in welchem Ausmaß  das postmoderne, aus den Bindungen traditioneller Lebensstile herausgelöste Individuum gerade unter dem Diktat imperativer gesellschaftlicher Leitbilder steht, die seine Wahlmöglichkeiten angesichts der irritierenden Fülle von Lebens- und Verhaltensoptionen erheblich einschränken. Diese Leitbilder sorgen bislang dafür, dass die Vergesellschaftung der Individuen – auch in der individualisierten Marktgesellschaft – in vorgegebenen, angepassten Bahnen verläuft.

Obwohl die Entstehungszeit der Essays bereits einige Jahre zurückliegt, haben sie bis heute kaum an Aktualität eingebüßt, was man als Beleg dafür nehmen kann, dass gesellschaftliche Leitbilder über einen längeren Zeitraum hinweg verhältnismäßig stabil sein können. Abrufbar sind die Essays in Textform auf der Website des Deutschlandfunks.

Essay 1 beschäftigte sich am 6.1.2008 mit dem Leitbild „Coolness“.

Essay 2 galt am 13.1.2008 dem Thema „Bildung“.

Essay 3 widmete sich am 20.1.2008 dem Leitbild „Leistung“.

Essay 4 galt am 13.1.2009 der Auseinandersetzung mit dem Leitbild „Medienkompetenz“. Der Text wurde später in der von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (3/2011) unter dem Titel „‚Medienkompetenz’ – Chimäre oder Universalkompetenz?“ nachgedruckt.

Essay 5 setzte sich am 25.12.2009 mit dem Leitbild „Jugendlichkeit“ auseinander.

(28.12.2017)

 

„Hi, wir sind bento“
Über eine journalistische Insolvenzerklärung

Für Medienhäuser ist es wichtig, jüngere Zielgruppen als Leserschaft zu gewinnen oder zumindest zum Anklicken der eigenen Online-Dienste zu bewegen. Die Versuche, sich der Jugend zu nähern, muten dabei jedoch mitunter recht bizarr an. Die Mediengruppe DuMont Schauberg beispielsweise versuchte es 2014 mit einem Printprodukt namens „XTRA“. Das dafür zuständige Redaktionsteam wurde der Chefredaktion des Boulevardblattes „Express“ unterstellt, und entsprechend sah das neue Jugendblatt auch aus: viel Bild, viel Farbe, wenig Text. Die TAZ kommentierte seinerzeit abgeklärt: „Die Geschichten haben weder Tiefe noch Biss. Digitale Themen spielen eine erstaunlich geringe Rolle. […] Wer tatsächlich glaubt, damit die 19- bis 39-Jährigen gewinnen zu können, scheint von dieser Altersgruppe nicht viel zu halten.“

Mangels Erfolg mutierte „XTRA“, zu dessen Vertrieb eigene Verkaufskästen in der Kölner Stadtlandschaft platziert worden waren, zunächst von einer Tages- zu einer Wochenzeitung, dann zum reinen Digital-Angebot und nach 14 Monaten zog der Verlag den Stecker.

Etwas weniger naiv gingen ZEIT und SPIEGEL vor. Seit Juli 2015 präsentiert die Online-Ausgabe der ZEIT ein ergänzendes Angebot „das für Leserinnen und Leser zwischen Schulabschluss und erstem Jobwechsel gedacht ist“, so die Selbstauskunft des Verlages. „ze:tt“ heißt das Produkt und nach den Vorstellungen seiner MacherInnen will es „mit eigenen und kuratierten Inhalten für Gesprächsstoff in WhatsApp-Gruppen und WG-Küchen sorgen.“ Nun denn.

Die bis dato erfolgreichste Sättigungsbeilage für die jüngere Zielgruppe serviert jedoch der SPIEGEL, das einstige „Sturmgeschütz der Demokratie“. Sie hört auf den Namen „bento“ und stellt sich selbst wie folgt vor: „Hi. Wir sind bento. […] bento ist das junge Angebot von SPIEGEL ONLINE. bento zeigt, was 18- bis 30-Jährige wirklich interessiert, was uns betrifft und wie wir dazu stehen. Weil es News überall und zu viel gibt, wählen wir aus, was wichtig für uns ist.“

Was nun wichtig für die bento-Zielgruppe ist, wes Geistes Kinder seine oder ihre MacherInnen sind, wie SPIEGELs bento im Bereich des Native Advertising agiert und ob das alles überhaupt noch etwas mit Journalismus bzw. journalistischer Ethik zu tun hat, damit hat sich der Satiriker und Moderator Jan Böhmermann beschäftigt. Herausgekommen ist eine stichhaltige Medienanalyse mit hohem Unterhaltungswert über eine „journalistische Insolvenzerklärung“. Den knapp 21-minütigen Blick hinter die Kulissen der Zielgruppenjäger aus dem Hause SPIEGEL gibt es als YouTube-Video.

(25.12.2017)

 

Hart und unfair: Von der Verwandlung der tatsächlichen Wirklichkeit in eine bloß gefühlte

Wenn Journalisten und Politiker davon sprechen, man müsse die Menschen mitnehmen, oder dass es Menschen gäbe, die sich abgehängt fühlen, ist Vorsicht geboten. Formulierungen, die beim ersten Lesen oder Hören harmlos erscheinen, können ganze Diskurse steuern, Argumente der Gegenseite subtil abwerten und die Wirklichkeit vernebeln.

Der Journalist und Autor Marcus Klöckner hat dazu am 4.10.2017 einen beachtenswerten Beitrag veröffentlicht. Unter dem Titel „Über ‚fühlen’ und ‚mitnehmen’: Wie Politik und Medien durch Sprache die Wirklichkeit verschleiern“ ist er auf den NachDenkSeiten als Text und als Audio-Podcast abrufbar. Lesenswert für all diejenigen, die gerne wissen möchten, wie Frank Plasberg & Co mit einer „Sprache voller Implikationen“ eine saubere journalistische Erfassung gesellschaftlicher Probleme unmöglich machen und dazu beitragen, einen „offenen politischen Diskurs bereits im Keim zu ersticken“.

(10.12.2017)