Einsturz des Kölner Stadtarchivs und die Folgen

Am 3. März 2009 wurde das Historische Archiv der Stadt Köln (HAStK) in Folge eines unzureichend kontrollierten U-Bahn-Baus zum Einsturz gebracht. Es verwahrte Originaldokumente aus über tausend Jahren Kölner und rheinischer Geschichte und war mit dieser dichten Überlieferungsgeschichte eines der bedeutendsten Stadtarchive nördlich der Alpen. Die Zerstörung der Archivalien bedeutet den größten Kulturverlust Europas seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Der nachträgliche Umgang mit dem Einsturz ist gleichermaßen ein Beispiel für das Wegducken der Verantwortlichen in Politik und Verwaltung wie für die Bagatellisierung der Verluste und für das misslungene Krisenmanagement der Archivleitung.

Ich selbst war von dem Einsturz am 3. März 2009 in zweifacher Weise betroffen. Zum einen hatte ich dort als Nutzer knapp zwei Jahre lang den Bestand des Verlags Kiepenheuer & Witsch für ein Buchprojekt ausgewertet. Der Einsturz beendete diese Arbeiten abrupt. Außerdem hatte ich dem Archiv über einen längeren Zeitraum immer wieder Dokumente zukommen lassen, die während eigener ehrenamtlicher Tätigkeiten angefallen waren. Darunter solche der traditionsreichen Literarischen Gesellschaft Köln sowie von verschiedenen sozialen Bewegungen der 1970er-Jahre (Umweltbewegung, Psychiatriereform, Gründungsphase der TAZ etc.). Dass ich selbst am Tag der Katastrophe nicht im Lesesaal arbeitete, war ein glücklicher Zufall.

Foto: Frau malt Protestplakat: "Postnvergabe nach Parteibuch = Köln = Korruption
Vorbereitung des Bürgerprotests gegen die Verantwortlichen für den Archiveinsturz

In Folge des für die Stadt Köln typischen Desasters gründete sich 2009 die Bürgerplattform „Köln kann auch anders“ (K2A2), die für einen grundlegenden Wandel der politischen Kultur in der Domstadt eintrat. Ich engagierte mich in diesem Rahmen knapp fünf Jahre und beschäftigte mich dabei u. a. mit den Themen „Gebäudewirtschaft“, „kommunale Haushaltspolitik“ und „Wirtschaftsförderung“. Mein Hauptinteresse galt aber dem HAStK, dem Umgang der Stadt mit der Katastrophe und den Zukunftsplänen der Archivleitung. In dem Zusammenhang schrieb ich zahlreiche Papiere: Essays, Dossiers, Reden, Pressetexte. Inzwischen sind sie selbst zu historischen Dokumenten geworden, in denen Punkte angesprochen und Fragen formuliert wurden, die nach wie vor (Stand: 2019) aktuell sind.

Foto: Protestveranstaltung 2012 vor dem Einsturzkrater des Stadtarchivs
3. März 2012 – drei Jahre nach dem Einsturz: Gedenkveranstaltung am Archivkrater

Ein erster Beitrag vom 12.5.2009  diente dem Zweck, Argumente gegen eine voraussetzungslose Solidarität mit dem HAStK in die Diskussion einzubringen. Das erschien mir notwendig, weil sich bereits zwei Monate nach dem Einsturz erste Stimmen meldeten, die dessen Folgen zu relativieren versuchten.

Für die Fachzeitschrift „Geschichte in Köln“ entstand 2009 ein Essay unter dem Titel „1514 antwortet nicht mehr … Eine Geschichte von Verlust, Verantwortung und vom Nutzen eines Archivs“. Dieser Beitrag war eine Reaktion darauf, dass die Kölner DuMont-Presse lange Zeit völlig unkritisch über die Folgen des Archiveinsturzes berichtet hatte: Jede geborgene und restaurierte mittelalterliche Urkunde wurde als Trophäe gefeiert und als Beleg dafür genommen, dass die Folgen der Katastrophe beherrschbar seien. So wurden die Auswirkungen auf die Forschung faktisch beiseite geschoben. Bis heute hat niemand die wissenschaftlichen Qualifizierungsarbeiten und Forschungsprojekte gezählt und gelistet, die aufgrund des Archiv-Einsturzes abgebrochen werden mussten oder gar nicht erst zustande kamen. Der Essay „1514 antwortet nicht mehr …“ war vor dem Hintergrund der Versuch, an konkreten Forschungsbeispielen die Bedeutung von Archiven auch für Laien verständlich zu machen und gegen die allzu schlichte Sichtweise anzuschreiben, Archive bestünden fast nur aus kontextlosen, optisch attraktiven „Highlights“, wie es die seinerzeit irreführende lokale Berichterstattung suggerierte.

Einen ausführlichen Beitrag zu den politischen Voraussetzungen, die letztlich zum Einsturz des Archivs führten, schrieb ich für den „Rheinischen Merkur“. Er erschien am 25. Februar 2010.

Ein Redebeitrag auf einer Veranstaltung anlässlich des ersten Jahrestages des Archiveinsturzes am 3. März 2010 griff die Gedanken aus dem Essay „1514 antwortet nicht mehr …“ auf; er galt der Bedeutung des Archivverlustes für die Forschung und der Kritik an der Archivleitung.

Ein Bericht über die Veranstaltung vom 3.3.2010 entstand für die Website von K2A2.

Die Kölner Programmzeitschrift „Choices“ brachte im Juni 2011 einen Schwerpunkt zum Thema „Das Archiv der Zukunft“. Ich beteiligte mich daran mit einer Kritik der fragwürdigen Planungen der Leitung des HAStK.

Eine kritische Zwischenbilanz „Zur Zukunft von Stadtmuseum und Stadtarchiv in Köln“ entstand im Februar 2012 in Form eines Dossiers. Die Kompetenz und Zukunftstauglichkeit der Leitung des Stadtmuseums würde ich aus heutiger Sicht allerdings sehr viel kritischer und pessimistischer beurteilen. Die Hoffnung stirbt in Köln sehr rasch …

Foto: U-Bahn-Schacht vor dem ehemaligen Standort des Stadtarchivs
U-Bahn-Schacht vor dem ehemaligen Standort des Stadtarchivs

Für den 3. März 2012, den dritten Jahrestag des Archiveinsturzes, entstanden die Fragen und Anregungen, die sich an die Kölner Stadtverwaltung und die Stadtpolitik richteten. Das Papier bemängelte u. a., dass die Wiederherstellung der Archiv-Ordnung weitgehend ohne Expertenwissen über die inhaltlichen Zusammenhänge der Bestände stattfindet und damit weitere vermeidbare Verluste produziert. Erstmals wurde hier auch die Arbeit der 2010 gegründeten „Stiftung Stadtgedächtnis“ in Frage gestellt.

Die „Stiftung Stadtgedächtnis“ wurde in Köln 2010 mit dem Ziel gegründet – analog zur erfolgreichen Spendenakquisition für die Weimarer Herzogin Anna Amalia Bibliothek nach deren Brand –, Geld bei privaten Spendern einzusammeln. Die frühe Geschichte der Stiftung ist eine Abfolge von Peinlichkeiten. Zu spät gegründet und dann mit einem Vorsitzenden und Geschäftsführer fehlbesetzt, der viel versprach und kaum etwas hielt, verbrauchte sie mehr Geld als sie einsammelte. Zum 31. Dezember 2014 trennte sie sich von ihrem erfolglosen Vorsitzenden. Wiederum viel zu spät. Am 10.8.2012 entstand für K2A2 bereits eine erste Presseerklärung, die versuchte zu verdeutlichen, warum die „Stiftung Stadtgedächtnis“ zwangsläufig als Flop enden würde.

Im Oktober 2012 entwarf ich für K2A2 eine Auflistung von Fragen zur Gegenwart und Zukunft des HAStK. Sie waren an den Oberbürgermeister, den Kulturdezernenten und an die Archivleitung gerichtet.

Foto einer Installation, die halbversunkene graue Männer mit Aktentaschen zeigt von I
Installation von Isaac Cordal. Frei interpretiert: Kölns Stadtverwalter im selbstgeschaffenen Archivsumpf – ratlos.

Durch den Einsturz des HAStK wurden nicht nur städtische Akten vernichtet oder beschädigt. Es wurden auch Vor- und Nachlässe sowie Sammlungen von Privatpersonen und Vereinigungen zerstört bzw. schwer in Mitleidenschaft gezogen. Diese nicht-amtlichen Überlieferungen – Schriftstücke, Urkunden, Pläne, Plakate, Flugblätter, Fotografien, Tondokumente etc. – waren immer schon mehr als nur eine bloße Ergänzung der amtlichen Archivbestände. Erst durch eine Gesamtschau von amtlichen und nicht-amtlichen Überlieferungen wird gewährleistet, dass durch die Forschung ein multiperspektivischer Blick auf die Geschichte der Stadtgesellschaft mit all ihren Konflikten und Kontroversen gerichtet werden kann. Weil die Stadt Köln nach dem Einsturz ihres Archivs nur selten den Eindruck vermittelt hat, dass sie sich ihren Vor- und Nachlassgebern und Depositaren besonders verpflichtet fühlt, haben sich Vor- und Nachlassgeber des HAStK am 2. Juli 2012 zu einer Interessengemeinschaft zusammengeschlossen. Ich habe deren Arbeit bis ins Jahr 2016 begleitet und zusammen mit Oliver König und Christiane Haerlin strukturiert.

In den Zusammenhang gehört noch ein weiteres Dokument. Die Interessengemeinschaft hatte eine Informationsveranstaltung der Stadt am 22.10.2012 dazu genutzt, dem OB, dem Kulturdezernenten und der Archivleitung zwölf Fragen zu übergeben, die im Kreis der Interessengemeinschaft aufgekommen waren. Einen Monat später erhielt sie ein Antwortschreiben des damaligen Kulturdezernenten Georg Quander. Fragen, Antworten und eigene Kommentierungen für die IG finden sich unter: Fragen und Antworten Nachlassgeber.

Verantwortung für das Desaster hat in den Jahren seit dem Einsturz niemand seitens der Kölner Politik und Verwaltung übernommen. Das Verhältnis der Archivleitung gegenüber der Öffentlichkeit sowie den Vor- und Nachlassgebern kann allenfalls als ein taktisches, nicht jedoch als ein kooperatives beschrieben werden. Andreas Rossmann spricht in der FAZ vom 3.3.2017 unter Berufung auf ungenannte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von einem „angstgesteuerten Führungsstil“ der Direktorin des Archivs und einem „hohen Personal- und Ressourcenverschleiß“. „Viele Kollegen, die schon vor dem Einsturz im Archiv arbeiteten, seien vergrault worden.“

Meine eigenen Bemühungen, mich für die Weiterentwicklung des HAStK einzusetzen, habe ich 2016 eingestellt. Fragen, die in den ersten Jahren nach dem Einsturz von mir aufgeworfen wurden, blieben weitestgehend unbeantwortet. Mit der juristischen „Bewältigung“ der Katastrophe sind heute Heerscharen von Anwälten beschäftigt. Es geht um eine Schadenssumme in Höhe von mehr als einer Milliarde Euro. Die hausgemachte Katastrophe fand sogar Eingang ins internationale Kulturschaffen. Die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek nahm den Einsturz des HAStK als Vorlage für ein bitterböses Stück über blinden Technikglauben, Profitgier, Hybris und Vertuschung: „Das Werk. Im Bus. Ein Sturz“ wurde 2010 von Karin Baier für das Kölner Schauspielhaus inszeniert.

Am 3. März 2019 jährte sich der Archiveinsturz zum zehnten Mal. Aus der Vielzahl der Veröffentlichungen zum Thema ragten zwei heraus. In der FAZ vom 1.3.2019 veröffentlichte Oliver König, Sohn von René König und dessen Nachlass-Verwalter, den Beitrag „Die Verantwortung bleibt verschüttet“.

Ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Stadtarchivs wandten sich zudem in einem Offenen Brief an die Oberbürgermeisterin. Sie schildern darin en détail das Führungsversagen der Archivleitung und einen Arbeitsalltag im Archiv, der von Intrigen, Intransparenz und Mobbing bestimmt wird.